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Aus Kafkas Oktavheften ... "...Friede Ukraine..."

Am 10. Februar 1918 notiert Franz Kafka "Sonntag. Lärm. Friede Ukraine." (Kafka, Franz. Die Acht Oktavhefte. Kindle-Edition S. 42).

Zwischen Kafkas Geburtstag am 03. Juli 1883 und seinem hundersten Todestag am 03. Juni 2024 liegen, bis jetzt, zwei Weltkriege, die Versöhnung Frankreichs und Deutschlands, die Bildung Europas, das Versprechen für Frieden, Freiheit, Bildung. Weltbürgertum. Europäerin sein dürfen.

Der Separatfriede zwischen Ukraine und den Mittelmächten Österreich-Ungarn, Türkei, Bulgarien und Deutschland wurde in der Grenzstadt Brest-Litowsk unterzeichnet. Der Zerfall des Zarenreiches nach der Oktoberrevolution 1917 führte zu Unabhängigkeitsbestrebungen im Vielvölkerstaat Russland. Nationalstaaten entstanden, und neben der Ukraine erklärten sich Georgien, Lettland, Aserbeidschan für unabhängig.

Die Ukraine strebte danach, als junge Volksrepublik international anerkannt zu werden. Bereits damals war die Ukraine die Kornkammer Europas und die Mittelmächte, allen voran Deutschland, waren an Getreidelieferungen für ihre Bevölkerung interessiert. Aber "bereits im Dezember 1922 wurde die Ukraine Teil der neu gegründeten Sowjetunion mit begrenzter Autonomie." (Langels, Otto. DLF Archiv, 09.02.2018).

Von all dem steht in Kafkas Aufzeichnungen scheinbar nichts. Im Oktavheft bettet Kafka "Friede Ukraine", wie so häufig, in verdichtete Beobachtungen des Umfelds ein, indem er weiter schreibt. "Es verschwinden die Nebel der Feldherren und Künstler, der Liebhaber und Reichen, der Politiker und Turner, der Seefahrer und..." Am 11. Februar notiert er sodann: "Friede Rußland." (Kafka, ebenda, S. 42ff).

Einige Monate zuvor, am 4. Dezember 1917, erhält Kafka von Max [Brod] ein Telegramm mit der Nachricht "... Waffenstillstand mit Rußland. ". Weiter heißt es dazu in Kafkas Aufzeichnungen "Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten." (ebenda, S. 26).

Die Mittelmächte formulierten im Dezember 1917 einen Waffenstillstand, der Russland erlaubte, aus dem Krieg auszutreten, jedenfalls formal auf dem Papier. Die Februarrevolution 1917 beendete die Autokratie des Zaren. In der dann folgenden Oktoberrevolution des selben Jahres übernahmen die Bolschewiken die Herrschaft (de.m.wikipedia.org/wiki/Russische_Revolution. Abruf 20230703). Der Messias kommt und kommt nicht, und wenn, kommt er "am allerletzten" Tag, und wann das sein wird, ist ungewiss, möglicherweise am "Tag nach seiner Ankunft". Kafka war ein wacher und aufmerksamer Beobachter. Man kann Kafkas Sätze in Bezug zur Weltgeschichte setzen, man kann damit auch völlig daneben liegen.


Wer versucht ist, Kafkas Sätze auf die Kriegssituation anzuwenden und zu interpretieren, liegt richtig und falsch zugleich. Kafka hat stets sich im Blick und die Reflektion seiner Gedanken und Innenwelten mit der Außenwelt - oder besser den Außenwelten. Er verarbeitet, was existiert. Es existiert die reale Umwelt gleichermaßen wie Gedanken, Träume, Empfindungen, Erlebnisse und Erfahrungen. Und die Abweichung davon. Und das Gegenteil. Alles vermag ihm Anstoß für eine Literarisierung zu sein, mit einem Komma öffnet er den Worten die Tür, um sich sogleich über ebendiese Worte und ihr Davoneilen zu beklagen, zu amüsieren, zu echauffieren. Und sie auch wieder zu zerstören, zu negieren, zu hinterfragen. Und sich im nächsten Augenblick genussreich von ihnen davontragen zu lassen und undiszipliniert eine Gedankenassoziation der nächsten folgen zu lassen. Flugs entsteht eine kleine Erzählung, scheinbar rund und gut gefügt, bis irgendetwas durch die Schale bricht und Kafka Risse deutlich macht. Ohne Erklärung. Gott, Paradies, Gesetzt, Recht, Messias, das Böse und Gute, die Schlange - Kafka be-greift sie und er-fasst sie, und sie sind ihm Prüfstein und Verführung zugleich.

Am 03. Juli 1883 in Prag geboren, jährt sich Kafkas Geburtstag zum 140. Mal. Kafka starb am 03. Juni 1924 in Österreich, in Kierling.

Bald 100 Jahre Kafka, da muss man zu seinem Todestag etwas schreiben, klar. Was nur? Dass er uns seit Jahrzehnten begleitet? Dass er mich begleitet, bevor ich es überhaupt wusste? Fast unendlich das Reden und Schreiben über Kafka - kaum etwas davon berührt meinen Kafka. Ebenso berührt mich nicht die Faszination mancher Kolleginnen und Kollegen am aufgerauten, unlogischen, widersprüchlichen, abstrakt-konkreten unmittelbaren Inhalt, den wir als kafkaesken Sprachstil kennen.

Kafka steht für das individuelle Nachdenken und Fragen-stellen-an-die-Welt, und indem er es aufschreibt ist es ein Lesen unserer eigenen Gedanken und Widersprüchlichkeiten in Form von abstrakten und absurden Beschreibungen großer oder klitzekleiner Teile der Welt. Sachlich-kühl, fast wie mit einem Seziermesser, stellt er Absurditäten dar, stellt sie in seiner klaren, fast juristisch-puritanischen Sprache genauso wirklich neben die Wirklichkeit - wie die Wirklichkeit.

Das Schöne im Absurden sehen und das Absurde im Schönen erkennen - nur, wie dafür Worte finden? Es ist das Groteske in der Welt, in der unmittelbaren Umgebung und in unseren Köpfen. Und es ist das, was womöglich das Eigentliche ist. Das Andere. Der Abweich. Das eigentlich Schöne. Wie in seinen Zeichnungen der gelungene Schwung der Linie.

Kafka beschreibt es, schreibt, formt es. Wir anderen bügeln ähnliche Gedanken glatt zu folgerichtigen Kausalitäten und Strukturen, die die Ordnung der Welt - und wir in ihr - stets aufs Neue manifestieren und zusammenhalten. So funktioniert unsere logisch-folge-richtige Arbeits- und Lebenswelt. Nicht so bei Kafka.

Der Kampf der rechten Hand mit der linken Hand, beobachtet vom Besitzer der Hände mit großer Faszination, das Kinn auf die Tischplatte gestützt, um auf Augenhöhe mit den kämpfenden Händen zu sein, ist der Kampf der Weltmächte, der Starken gegen die Schwachen. Die Linke hat er nie trainiert, sie ist schwach. Wenn er nicht befriedet, bricht die Rechte der Linken die Knochen, ja kann sie von der Tischkante ins Jenseits befördern. Die Linke ist schwach weil untrainiert, vernachlässigt von seinem Besitzer, erkennt Kafka, und holt beide zurück an den Tisch. Die Rechte liegt nun auf der linken und streichelt leise ihren Rücken. Friedlich. Der Käfer, wie er sich fühlt, wenn er auf dem Rücken liegt.

Das durchscheinende Licht im Blütenblatt, jede Ader Gottesader. Da kommt einer, ein Dünner, die Welt aus der Vollkommenheit des Blütenblattes neu zu erschaffen. Dieses Mal dreht er sich gen Süden. Sowie er seine dünnen Finger hebt, strömen die Adern der Blütenblätter empor und seine länger werdenden dünnen Finger dirigieren die Adern zu neuen Weltformen. Die links liegenden weißlichen Adern werden das Männliche. Der männliche Mann, das männliche Blatt, der männliche Frosch. Die rechts liegenden Blattadern der durchscheinenden Blütenblätter das Weibliche. Im Mittelstrang vereinen sich Quelle und Mündung, und Geburt und Tod fallen in der neuen Welt in Eins zusammen. Wie überhaupt alles gleichzeitig ist und nicht ist. Der Dünne verordnet, sich vollkommen einzulassen. Sich vollkommen einlassen ist sich auflösen. Wie die Blüten.


Was geschah am 03. Juli 1883? Was geschieht am 03. Juni 2024? Wird es "Friede Ukraine" geben? Wird die Nato "eingreifen"? Wird es Frieden in Europa geben?

Am 11. Februar 1917 notiert Kafka "Friede Rußland". Was folgt, ist leidlich bekannt. Zerfall des Zarenreiches, Bildung der Nationalstaaten, Gründung Sowjetunion, 2. Weltkrieg, Nachkriegsnachvorneschauen in Westdeutschland, aus kaputten Häusern neue bauen, aus Hunger Überfluss und aus Armut relativen Reichtum machen und die Demokratie als die beste, ja offenbar einzig mögliche aller Staats- und Gemeinschaftsformen in die Welt tragen.

Kafkaesk ist nichts mehr. Oder eben genau unser Heute.

Alles.


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