... wozu sind wir, wenn wir das Wort nicht gebrauchen...
schrieb Stefan Zweig an Romain Rolland. Das war 1914.
Bereits wenige Tage nach dem 24. Februar 2022 veränderte sich die öffentliche Sprache. Rhetorische Aufrüstung hat eine massive Wirkung auf Körper und Geist. Damit ist nicht allein Olaf Scholz “Zeitenwende” gemeint.
Innerhalb weniger Tage ist unsere zivilisierte westliche Welt gestürzt. Unsere Werte des 21. Jahrhunderts geben kaum Halt, manchen von uns geben sie gar keine Orientierung mehr, anderen wiederum gibt gerade inmitten des Elends, der Not und Trauer der Glaube an Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft noch Halt und Stütze. Europa ist zugleich stark und schwach angesichts des Krieges in der Ukraine.
Die Sprache wird militarisiert, Politiker, online-Medien, Unternehmen, Führungskräfte in Deutschland sprechen von "Gasnotstand | Gas ist knappes Gut | ökonomischer Angriff | Rückschlag | Notfallplan | Kriegsmüdigkeit der (deutschen) Bevölkerung | jetzt können Sie ja von der Seite angreifen | aus der Deckung kommen | platt machen ..." Dabei ist Deutschland (noch) nicht im Krieg. Die Sprache verändert sich immer zuerst und ist Anzeichen für gesellschaftlich-politische Veränderung.
Die Rhetorik wird moralischer, wertend und, ja, Angst machend. Eine Kriegsrhetorik, die sich nicht direkt, sondern indirekt aus dem Ukrainekrieg speist. Gas als Waffe, auf Ernstfall vorbereiten, Teuer-Schock, Zins-Keule, Abschreckung...
Angst ist kein guter Begleiter in der Kommunikation. Angst ist auch kein guter Begleiter, um Vertrauen in Politik oder Unternehmen oder Führungskräfte aufzubauen. Der soziale Kitt in der Gesellschaft erodiert, wenn statt sachlich klarer Information moralische Rhetorik praktiziert wird.
"...als es noch Zeit war..."
“Von mir selbst will ich nichts schreiben: ich bin wie verstört von dem Geschehen!”, schreibt Stefan Zweig an Romain Rolland zu Beginn des ersten Weltkrieges.
Zweig findet Worte, die uns heute helfen können, uns in unserem eigenen Verstörtsein angesichts des Krieges und des Leids Orientierung zu geben. So erschreckend es ist, Worte von 1914 zu lesen, die auf 2022 passen, so tröstend kann es auch sein, sich nicht alleine, nicht ohnmächtig, nicht wortlos zu fühlen, sondern Anleihe zu nehmen bei großen Schriftstellern.
Stefan Zweig klagt 1914 über die Propaganda in französischen Zeitschriften und Zeitungen und schafft in seinen Briefen an Rolland Klarheit, was zerstört, was nicht zerstört ist, was Verleumdung und was Wahrheit ist. Zweig benennt die Wucht des Lügengespinsts, das den Deutschen wie den Franzosen angedichtet werde: "Und diese Lügen springen mit den Telegrafenfunken rund um die Welt, eine elektrische Atmosphäre von Verleumdung umhaucht die ganze Erde. Wer kann ihnen nach, diesen Lügen? Selbst die Geschichte holt sie nicht mehr ein."
Die Transparenz über das Kriegsgeschehen setzt voraus, dass Pressefreiheit herrscht und unabhängige Journalisten auch in Kriegs- und Krisengebieten recherchieren und von dort berichten können. Wo hingegen unabhängige Medien und Reporter ausgeschlossen werden, sind die Informationen nur schwer als wahr oder falsch einzuordnen. Bilder, Videos, Zahlen, Berichte - welche Kriterien lassen einen fake news erkennen?
Wir leben in einer Welt des gläsernen Bürgers, in der jede und jeder eigene Daten freiwillig ins Netz stellt und Dienstleistern jeglicher Art Zugriff auf Daten ermöglicht, wir leben in einer Welt des social media, des Datenschutzes, der Digitalisierung, der KI und Cyberkriminalität.
Das alles führt ironischerweise nicht dazu, dass wir volle Transparenz über das Geschehen - und damit auch über das Kriegsgeschehen - haben, sondern zum Teil das Gegenteil eintritt und wir nicht sicher sind, welche Informationen wahr, welche falsch sind.
Welche schöne heile Welt ist es, in der wir aktuell leben bzw.. die gerade zersplittert wie Glas? Wie oft schon haben die Menschen von Europa geträumt - und den Traum zerstört gesehen. Heute bangen wir wieder und hoffen, dass Europa gestärkt und geeint aus Krise, Konflikt und Krieg hervorgehen möge.
Die obige Briefstelle lautet vollständig - und zeigt Stefan Zweigs großen Schmerz: "Wer sind wir, Romain Rolland, und wozu sind wir, wenn wir das Wort und die Macht, die uns durch das Wort gegeben ist, jetzt nicht gebrauchen? (...) Wir alle haben zwar gebüßt, dass wir so an die Reife der Menschheit glaubten, ich wie Sie haben doch alle geglaubt, dieser Krieg werde verhindert werden können und nur darum haben wir ihn nicht genug bekämpft, als es noch Zeit war." Stefan Zweig. An Romain Rolland vom 19.10.1914. Stefan Zweig: Briefe an Schriftsteller.
... als es noch Zeit war. Auch dieser Satz trifft auf uns Heutige zu. Doch statt ohnmächtig zu verharren weisen uns Stefan Zweigs Worte einen Weg, nämlich Zeugnis abzulegen. Ob mit dem Wort, so wie er, oder mit Gesprächen und Zuhören, mit Hilfen, Spenden, Unterstützungen, mit Gedanken und Taten - so, wie jede und jeder es vermag.
Miteinander sprechen hilft
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